Mathematikunterricht und demokratische Erziehung
 

Mathematics Teaching and Democratic Education
Formación Matemática y Educación Democrática
 

Ein Sokrates/Comenius-Projekt der Europäischen Kommission
unter Leitung des Landesinstituts für Erziehung und Unterricht Stuttgart
mit Schulen aus Deutschland, England, Österreich und Spanien


Als Impuls für Aktivitäten im World Mathematical Year 2000 stellt eine Gruppe europäischer Lehrer eine Anregung vor, den Mathematikunterricht durch gesellschaftliche Bezüge für Schüler zugänglicher zu machen und zu vertiefen und damit die Mathematik stärker in den gesellschaftlichen Kontext zu stellen.

In einer Publikation (die auch in englischer und spanischer Sprache erhältlich ist) wird das Thema nach vielen Seiten hin beleuchtet und werden Vorschläge für entsprechende Fortbildungskurse gemacht. Die Gruppe bietet darüber hinaus an, solche Kurse durchzuführen.

Nachfolgend finden Sie:

Die Publikation ist für DM 13,- beim Landesinstitut für Erziehung und Unterricht Stuttgart, Wiederholdstr. 13, 70174 Stuttgart, Fax 0711 / 1849565 erhältlich als Nummer M42 (deutsch), M42e (englisch) und M42c (spanisch).

Kontaktadresse: Dr. Hartmut Köhler, Landesinstitut für Erziehung und Unterricht
Wiederholdstraße 13, 70174 Stuttgart
Fax: 0711 / 1849565
e-mail: koehler@media.leu.bw.schule.de

 
Einordnung

Der Pädagoge Marian Heitger mag uns ganz allgemein einstimmen: "Daß der Mensch denkt, kann bei aller Skepsis nicht geleugnet werden. Denn diese setzt jenes notwendig voraus. Wenn das Denken nicht bestritten werden kann, dann gilt diese Gewißheit auch vom Denken des Denkens, vielleicht besser: vom Be-denken des Denkens. Hier stößt man auf die Bedingung der Möglichkeit des Lehrens und Lernens; allerdings nur dann, wenn man das Lernen nicht auf das Sammeln von Daten bzw. das Speichern von Kenntnissen reduziert." [Heitger]

Gehen wir vom Menschenrecht auf Bildung, das Heitger daraus ableitet, noch einen Schritt weiter in Richtung auf das vorliegende Thema. Ole Skovsmose formuliert zugleich die Unabweisbarkeit des Themas und das Defizit in seiner Behandlung: "Mathematical education has political dimensions, but it is far from obvious how to point out these dimensions." [Skovsmose]

Eine Gruppe von Lehrern aus Deutschland, England, Österreich und Spanien hat während zweier Jahre diskutiert, wie diese Dimension angesprochen werden könnte, ja müßte. Ausgangspunkt waren eine Idee von Colin Hannaford über die historische Seite des Problems [Hannaford] und Gedanken von Hartmut Köhler zum Defizit üblichen Unterrichts angesichts der gefährdeten Welt [Köhler]. Diese Diskussion geschah innerhalb eines Comenius-Projektes des Sokrates-Programmes der Europäischen Union. Unter der Leitung des Landesinstituts für Erziehung und Unterricht Stuttgart fanden acht Zusammenkünfte statt, in denen die Teilnehmer das Thema gemeinsam bearbeiteten. Die Ergebnisse wurden in Veranstaltungen an Universitäten und bei der Gesellschaft für Didaktik der Mathematik diskutiert und ein erster Lehrerfortbildungskurs zum Thema wurde durchgeführt. Am Lehrstuhl für Politikwissenschaft der Pädagogischen Hochschule Heidelberg (Gerd Hepp) wurde die Angemessenheit der hier enthaltenen politisch-gesellschaftlichen Aspekte angesichts gängiger Ansätze zur Didaktik der politischen Bildung abgeklärt.

Die Gruppe legt mit dem vorliegenden Heft Anregungen für Lehrer vor, von denen sie hofft, daß sie viele Kollegen stimulieren, zu einer entsprechenden Weiterentwicklung der Unterrichtskultur des Mathematikunterrichtes beizutragen. Ziel war nicht eine systematische Arbeit, sondern ein Impuls von Kollegen für Kollegen zur Änderung der Aufmerksamkeit, zur Überprüfung der eigenen Wertentscheidungen und der darauf fußenden Unterrichtsentscheidungen. Die Artikel sind in vieler Hinsicht unterschiedlich. Sie spiegeln die Bemühungen der jeweiligen Autoren, ihr Thema zur Diskussion zu stellen. Zwar hat die Gruppe die Themen gemeinsam diskutiert, die Ausarbeitung aber verantwortet jeder selbst. Es mag durchaus Widersprüche in den Artikeln oder zwischen ihnen geben. Sie auszuräumen (falls oder soweit das möglich ist), könnte schon ein Ansatz zur eigenen Weiterarbeit an dem Thema sein.

Am Ende des Heftes sind Hinweise zusammengestellt für Fortbildner, die das Thema in Kursen aufgreifen wollen. Sie beruhen u. a. auf Erfahrungen, die die Gruppe mit einer Lehrerfortbildung in der Akademie Donaueschingen im November 1997 zu diesem Thema gemacht hat. Die angesprochene Thematik liegt quer zu einer Wahl zwischen "herkömmlichen" und "progressiven" Unterrichtsmethoden, wie sie im Lehrerzimmer manchmal versucht wird, und eignet sich für Lehrerfortbildungsveranstaltungen sehr verschiedener Zielrichtung.

Unser Anliegen ist eine veränderte Haltung des Lehrers, die zu anderen Entscheidungen im Unterricht führt. Die geforderte andere Unterrichtskultur ist aber nicht an bestimmte Methoden gebunden. So zeigt die von Elisabeth Thoma vorgestellte Medienarbeit beispielsweise, daß eine andere Ansprache der Schüler möglich ist, aber diese Ansprache ist nicht an diese Methode gebunden, viele andere sind denkbar. Nicht Gruppenarbeit versus Frontalunterricht oder ähnlich lautet die Frage, sondern mehr und mehr selbstverantwortliche eigenaktive Arbeit des Schülers versus Verfestigung einer Abnehmerhaltung des Schülers. Ein dialogischer Unterrichtsstil hat sein Kriterium in der wirklichen geistigen Partizipation aller Beteiligten und nicht in der gerade gewählten Methode; sie ist als dienende angesichts der jeweiligen Kontextvariablen zu bestimmen.

Das Projekt gab zudem den Anstoß, das Thema in zwei Heften des Zentralblattes für Didaktik der Mathematik unter weltweiter Beteiligung von Wissenschaftlern zu diskutieren. [ZDM]


Hartmut Köhler

Colin Hannaford: Mathematics. The Co-Factor of Democracy. In: Arbeitskreis Mathematik und Bildung (Hg.): Mehr Allgemeinbildung im Mathematikunterricht. Buxheim (Polygon) 1993

Marian Heitger: Bildsamkeit und Menschenrechte. In: Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Pädagogik, 73.Jg., Heft 3, 1997

Hartmut Köhler: Bildung und Mathematik in der gefährdeten Welt. Buxheim (Polygon) 1993

Ole Skovsmose: The Dialogical Nature of Reflective Knowledge. In: Sal Revisto et al. (Hg.): Math Worlds. Philosophical Studies of Mathematics and Mathematics Education. State University of New York Press 1993

ZDM: Zentralblatt für Didaktik der Mathematik, Jg. 30, Dez. 1998, Heft 6 und Jg. 31, Feb. 1999, Heft 1
 
 

Genese des Projektes

1992 wurde im Arbeitskreis "Mathematik und Bildung" der Gesellschaft für Didaktik der Mathematik (GDM) Colin Hannafords These diskutiert, daß sich Mathematik und Demokratie historisch gesehen parallel entwickelt haben und stets dann blühten, wenn sie sich gegenseitig befruchteten (siehe "Mehr Allgemeinbildung im Mathematikunterricht", Polygon-Verlag 1993). Andererseits waren der Mathematikdidaktik schon lange vor der TIMSS-Studie strukturelle Defizite des Mathematikunterrichtes bekannt. Dagegen hatte sie eine neue Unterrichtskultur gefordert und auch skizziert, die durch Hannafords These neu untermauert wurde.

Die Dignität des Themas "Mathematikunterricht und demokratische Erziehung" unterstrich schon ein groß angelegtes Projekt in Dänemark, das aber nicht bis in den Unterrichtsalltag hinein konkretisiert wurde. Auf einer Tagung der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg 1994 in Bad Urach hingegen zeigte sich, daß gerade an dieser Konkretisierung Bedarf besteht. Verantwortlich für den erfolgreichen Ausgang dieser Tagung war vor allem die Tatsache, daß hier interdisziplinär diskutiert wurde von Lehrern für Mathematik und für Gesellschaftswissenschaften.

Ein Blick in die internationale mathematikdidaktische Szene zeigte, daß das Thema nicht allein von nationalem Interesse ist. So stieß der naheliegende Ansatz einer nationenübergreifenden Arbeitsgruppe zur Behandlung dieses Themas bei der Europäischen Kommission in Brüssel auf offene Ohren. Sie genehmigte die finanzielle Unterstützung im Rahmen eines COMENIUS-Projektes. In ihm arbeiteten zwei Jahre lang unter der Federführung des Landesinstituts für Erziehung und Unterricht Stuttgart (Dr. H. Köhler) Mathematiklehrer und Lehrer der Gesellschaftswissenschaften aus Deutschland, England, Österreich und Spanien zusammen.

Entsprechend der Praxisorientierung des Projektes wurden zunächst Ansätze zur Lehrerfortbildung konzipiert und erprobt. Darüber hinaus ging aus dem Projekt eine Publikation in den Sprachen Deutsch, Englisch und Spanisch hervor.

Durch das Projekt angeregt, erscheinen zwei vom Projektleiter herausgegebene Hefte des Zentralblattes für Didaktik der Mathematik (ZDM, Heft 6/1998 und Heft 1/1999) mit Beiträgen der Projektgruppe, in denen das Thema darüber hinaus weltweit diskutiert wird. Von Seiten der politischen Wissenschaft wurde bestätigt, daß die Ansätze der Projektgruppe auf dem Stand der aktuellen Diskussion über politische Bildung sind. Dies eröffnet Perspektiven auch für fachübergreifende Ansätze im Unterricht.

Kohler
 
 

Sinn des Projektes

Es gibt verschiedene Gründe für die Aufnahme dieses etwas ungewöhnlich klingenden Themas.

Wie die Mathematik geeignet ist, Brücke zwischen den von Snow angesprochenen Welten der Natur- und Geisteswissenschaften zu sein, so ist der Mathematikunterricht geeignet, den beiden Notwendigkeiten zeitgemäße mathematische Bildung und demokratische Erziehung gerecht zu werden. Er wird indessen entweder beiden gleichzeitig gerecht oder keiner von beiden. Wird er aber beiden gerecht, kann er damit auch seine Außenseiterrolle überwinden und seine Reintegration in die Gesellschaft erreichen.

Köhler
 
 

Inhalt der Publikation

Einordnung 5
Erste Annäherung an das Thema 7
(Hartmut Köhler)

Mathematikunterricht ist demokratische Erziehung 15
(Colin Hannaford)

Lerntheoretische Gesichtspunkte zeigen Zusammenhänge 34
(Eduardo Carpintero / Hartmut Köhler)

Persönlichkeitsstruktur und Selbstverständnis von Mathematiklehrern 41
(Magnus Nieger)

Einstellungen zur Mathematik und zum Mathematikunterricht 64
(Elisabeth Thoma)

Pädagogische Entscheidungen und ihre Folgen 72
(Hartmut Köhler)

Ein Versuch, Mathematik individuell zu unterrichten 93
(Catherine Darnton)

Auf dem Weg zu einer demokratischen Unterrichtskultur 100
(Elisabeth Thoma)

Praktische Folgen eines anderen Unterrichtsstiles 121
(Colin Hannaford)

... aus der Sicht von Nichtmathematikern 125
(Daniela Camhy, Gertrud Christoph, Juan Carlos Ocaña)

Hinweise für Fortbildungskurse 129